Zeichnung: Flanierende Menschen am Donaukanal

Abstand, Sorge, Routine, Hilfe

1.4.2020

"Ich habe jetzt glaube ich genug gesehen", sagte Sarah und drehte den Fernseher aus, nahm automatisch ihr Smartphone zur Hand, legte es aber gleich wieder zur Seite und stand sogar extra auf, um es an einer Stelle zu deponieren, wo es ihr aus den Augen war. Stefan saß auf dem Sofa und schaute auf den Bildschirm, auf dem gerade noch die Berichterstattung über das Coronavirus gelaufen war.

In Zagreb hatte es ein Erdbeben gegeben und ein Turm der Zagreber Kathedrale war abgebrochen und in die Tiefe gestürzt. Ein 15-jähriges Mädchen schwebte in Lebensgefahr und Frauen hatten mit ihren Neugeborenen aus einer Klinik auf die Straße flüchten müssen. Leute aus der Nachbarschaft verließen trotz der Ausgangsbeschränkungen das Haus und versorgten sie mit dem Allernötigsten.

Offene Augen, offene Ohren

Es war die zweite Woche, in der es hieß, man solle zuhause bleiben und soziale Kontakte vermeiden. Der Wiener Bürgermeister war im Nachrichtenstudio zwei Meter entfernt vom Moderator gesessen und die beiden hatten sich auch nicht die Hand gegeben. Polizeistreifen fuhren durch die Stadt und bedankten sich mit Blaulicht und Musik aus Lautsprechern bei der Bevölkerung dafür, dass sie sich an die Anweisungen der Behörden hielten. Es gab auch Menschen, die sich nicht an die Anweisungen hielten und einige von ihnen waren bereits bestraft worden. Die Lipizzaner gingen im Burggarten spazieren, der abgesperrt war wie alle Bundesgärten. Die Parkanlagen der Stadt Wien waren noch offen, die Spielplätze allerdings gesperrt. Die Stadt war an vielen Plätzen erfüllt von blühenden Bäumen und Sträuchern. Die Frühlingsblumen schossen aus der Erde, weil es so warm war wie im Sommer. Bis dann der Winter zurückkam, mit eiskalter Luft aus dem Norden.

Es gab die ersten Toten in Wien. Es hieß, es seien vor allem Menschen über 65 Jahre gefährdet und Menschen mit Vorerkrankungen. Darum war für Sarah und Stefan, die gerade einmal etwas über dreißig waren, besonders interessant, wie alt die Menschen nun tatsächlich waren, die am Coronavirus starben, und auch, ob sie chronische Krankheiten hatten oder nicht. Denn so sicher waren die Erkenntnisse über die Krankheit noch nicht, das sagten auch die Leute vom Fach, die es wissen mussten. Es war nicht restlos auszuschließen, dass der Virus auch für sie eine tödliche Bedrohung sein könnte.

Routine in der Schwebe

Die Bar, in der Stefan bis vergangene Woche gearbeitet hatte, war geschlossen, eine Kündigung stand im Raum. Noch war nicht sicher, ob seine Chefin die Kurzarbeitsregelung der Regierung nutzen würde. Sarah arbeitete von zuhause aus. Vorerst blieb alles beim Alten. Der Computer stand auf dem Wohnzimmertisch, daneben lag ein Heft mit ihren Arbeitsunterlagen.

Stefan schaute viel fern und zog, während Sarah arbeitete, ins Schlafzimmer um. Er ging einkaufen, mit Einweg-Handschuhen und einem Schal um den Mund, und kochte. Er machte täglich ein paar Liegestütz oder nahm sich das zumindest vor. Er lag lange in der Badewanne. Er ging ab und zu ins Wohnzimmer, um nach Sarah zu sehen und sich mit ihr zu unterhalten. So sah der Alltag seit mehr als einer Woche aus. Goldhamster-Alltag nannten sie das mittlerweile.

"Ich schau mal raus", sagte Sarah. "Ich fahre eine Runde mit dem Fahrrad. Kommst du mit?" "Es ist viel zu kalt draußen." Stefan legte sich auf dem Sofa um und schob sich einen Polster unter den Kopf. "Ich wollte heute noch probieren, einen Mundschutz zu nähen. Ich habe da eine super Anleitung gefunden. Ich muss nur noch ein passendes Stück Draht finden." "Wofür?" "Als Bügel für die Nase." "Wie wär's mit diesen kleinen eingeschweißten Drähten für die Gefriersackerl, die wir nie verwenden? Dann kommen die endlich einmal weg." "Die müssten funktionieren. Sag einmal, arbeitest du eigentlich heute noch?" "Nein, bin schon fertig." Sarah stand auf und legte sich zu Stefan aufs Sofa.

"Das darf alles irgendwie nicht wahr sein, oder?", sagte Sarah, nachdem sie eine Weile lang geschwiegen hatten.

"Ja, es ist verrückt das Ganze", antwortete Stefan.

"Es geschehen so absurde Dinge. Eine Regierungsangelobung mit Mundschutz und Masken! Die ganze slowakische Regierung hat welche getragen und die Staatspräsidentin hat ihren Mundschutz sogar mit ihrem Kleid abgestimmt!"

Stefan schüttelte den Kopf, und nachdem sie wieder eine Weile still dagelegen waren, sagte er: "Und diese armen Frauen in Zagreb. Es ist schon schlimm genug, jetzt ein Kind zu bekommen und dann müssen sie auch noch wegen einem Erdbeben mit den neugeborenen Babys hinaus auf die Straße."

"Wie verarbeiten wir das alles eigentlich, was denkst du?", fragte Sarah.

"Keine Ahnung", sagte Stefan,"wir tun es einfach."

"Die Welt steht Kopf. Und wir haben das Glück, dass wir alles haben, was wir brauchen. Eine warme Wohnung, zu essen."

"Wir sind gesund … und wir haben uns."

"Ja stimmt, wir haben uns." Sarah überlegte. "Noch vor zwei Wochen war ich dafür noch nicht so dankbar wie heute. Kannst du dich erinnern, wie ich mich darüber aufgeregt habe, dass du so spät von der Arbeit nachhause kommst?"

 "Ja, so schnell kann es gehen … Das Lokal war voll, das Bier ist nur so geflossen. Unvorstellbar heute." Stefan räusperte sich. "Ich bin mir leider immer noch nicht sicher, ob ich mich bei meinem letzten Dienst nicht angesteckt habe." "Es sind jetzt zwei Wochen her. Du hast dich nicht angesteckt. Du bist gesund. Du rauchst nur ein bissl zu viel." Sarah gab Stefan einen Kuss auf die Wange und richtete sich auf. "Ich geh jetzt raus." "Ich komm mit. Wir könnten doch auf dem Weg bei der Frau Nepomuk vorbeischauen und fragen, ob sie was braucht." "Gute Idee, machen wir das."

Nicht berühren

Sarah und Stefan zogen sich an, stiegen hinunter in den ersten Stock und läuteten bei Frau Nepomuk. Frau Nepomuk war schon über achtzig Jahre alt und schwach auf den Beinen und es dauerte im Normalfall eine ganze Weile, bis sie es vom Zimmer bis heraus zur Tür geschafft hatte. Sarah und Stefan lauschten. Sie hörten sie kommen und warteten schon darauf, dass sie fragte: "Wer ist da?"

Nur heute kam die Frage nicht. Stattdessen hantierte Frau Nepomuk beim Aufsperren so laut mit dem Schlüsselbund, dass Sarah und Stefan sich fragend ansahen. Als Frau Nepomuk dann die Türe aufzog, sahen sie in ein Gesicht mit nassen Augen und roten Flecken. "Was ist denn los?" Stefan hielt Sarah zurück, die einen Schritt auf sie zumachte und instinktiv den Arm nach ihr ausstreckte, um Anteil zu nehmen. "Meine Tochter", sagte Frau Nepomuk, schaute Sarah in die Augen und begann heftig zu schluchzen. Wieder gingen die Arme von Sarah hoch, um Frau Nepomuk beizustehen und wieder hielt sie Stefan zurück. "Es ist schwer, ich weiß." Sarah schaute Stefan voller Empörung und Schmerz an, atmete einmal tief durch und ließ schließlich die Arme sinken.

"Frau Nepomuk, was ist denn passiert? Erzählen Sie. Aber ganz ruhig, ganz ruhig, wir sind ja jetzt da." Frau Nepomuk schob sich schluchzend mit kleinen Schritten durch das Vorzimmer, Sarah und Stefan folgten ihr langsam mit dem empfohlenen Abstand.

In guten Händen

Frau Nepomuk setzte sich nicht in den Lehnsessel, in dem sie sich sonst niederließ, wenn sie sie besuchten, sondern stellte sich an eines der beiden Fenster und schaute hinunter auf den Donaukanal.

"Ich kann mich jetzt nicht hinsetzen", sagte sie über die Schulter zu dem jungen Paar, das in der Mitte des Raumes stehenblieb. "Also meine Tochter ist getestet worden. Sie ist positiv." Frau Nepomuk schwieg. "Ich habe es gerade erst erfahren." Die alte Frau nahm einen tiefen Atemzug und schüttelte den Kopf. "Sie wird heute ins Spital aufgenommen. Und ich darf sie nicht besuchen." Sie schüttelte weiter den Kopf. "Mein Kind ist im Spital und ich sitze hier fest und kann nichts tun." Frau Nepomuk brach in Tränen aus und die Erschütterung war so stark, dass sie das Gleichgewicht verlor und langsam seitlich zusammenbrach.

Sarah und Stefan stürzten auf sie zu, um sie aufzufangen, und es gelang ihnen auch. Sie an beiden Armen stützend, führten sie die Frau zum Sessel. "Es tut mir leid", jammerte sie, "es tut mir leid. Jetzt bringe ich euch auch noch in Gefahr." "Keine Sorge, Frau Nepomuk. Wir machen das schon. Keine Sorge." Stefan holte ein Glas Wasser aus der Küche und Sarah rückte einen Schemel heran, auf dem Frau Nepomuk ihre Beine ablegen konnte.

Sarah sprach jetzt ganz klar und bestimmt zu ihr: "Frau Nepomuk. Ihrer Tochter wird geholfen werden. Sie ist in guten Händen. Es gibt ausreichend Betten, auch für schwerste Fälle. Bei uns ist die Situation nicht gekippt. Weil wir alle zusammenhalten und füreinander da sind." Frau Nepomuk hörte zu und nickte. "Und wir beide, Stefan und ich, sind weiter für Sie da, so wie bisher. Wir kümmern uns um Sie. Sie sind nicht allein."

Frau Nepomuk senkte ihren Kopf und begann wieder zu weinen. "Wenn das alles nur gut ausgeht. Wenn das alles nur bald vorbei ist." "Wir stehen das gemeinsam durch", sagte Stefan, der mit dem Glas Wasser in der Hand dastand, "so wie Sarah gerade gesagt hat. Und wenn wir alles gut überstanden haben, gehen wir mit Ihrer Tochter gemeinsam am Donaukanal spazieren, so wie Sie das am liebsten haben." "Ja", sagte Frau Nepomuk, "das machen wir." Frau Nepomuk stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und sagte, zuerst zu Sarah und dann zu Stefan blickend: "Danke."

Links zur Geschichte

Infos der Stadt Wien zum Coronavirus
Donaukanal – wien.at-Stadtplan

Zeichnung: Sandra Biskup
Text: Simon Kovacic